Die poetische Sicht der Welt sei eine andere als jene, die uns unter dem Namen Realität immer neu verkauft werden soll, schrieb Durs Grünbein  vor einigen Jahren in der FAZ. Sie erziehe zu permanentem Widerstand.

In einer poetischen Sicht der Welt erscheinen neue Zusammenhänge, kommunizieren verschiedene Realitäten miteinander, verschiedene Zeiten, Epochen, entstehen Verbindungen zwischen Naturwissenschaft und, Kunst und Philosophie, werden Wurzeln der Menschenwelt sichtbar, die unsere Spezies in Tausenden von Jahren über die physikalische Welt gelegt haben.

Unsere Welt ist eine Welt der Menschen, nicht weil sie den Menschen gehört, sondern weil sie von ihnen konstruiert wurde: konstruiert nicht in einem bewussten, absichtlichen Prozess, sondern in der Auseinandersetzung mit allen möglichen Umwelten, mit denen unsere Spezies konfrontiert war, nicht zuletzt auch in der Auseinandersetzung mit sich selbst.

Aus diesem Grund sind alle Objekte, Begriffe, Ideen, Bilder bis auf die elementarsten Gefühle und Formen der Kommunikation für die allermeisten Nichtmenschen bedeutungslos, sie können unsere Welt nicht erfahren, so wenig wie wir die Welten anderer Lebewesen erfahren können.

Der Philosoph Thomas Nagel hat einmal gefragt: Wie fühlt es sich an, eine Fledermaus zu sein? und die Frage so beantwortet: Das einzige, was wir darüber mit Sicherheit sagen können ist, dass es sich natürlich anfühlt – für eine Fledermaus.

Wenn ich hier von unserer Spezies spreche, dann ist damit der moderne Mensch gemeint, wie er sich seit etwa vierzigtausend Jahren auf der Erde ausgebreitet und dabei andere lange neben ihm existierende Menschenarten ausgelöscht hat.  Auch diese hatten eine ihnen eigene spezielle Welt, in die ihre Kinder hineingeboren wurden, eine Welt, die man sie lehrte, die sie erweiterten, territorial, spirituell, intellektuell.

Nicht einmal diese Welt unserer ausgestorbenen Vettern können wir erfahren oder fühlen, wie es ist, ein Neandertaler zu sein.

Je genauer wir versuchen zu beschreiben, was das denn ist: unsere Welt, desto deutlich und klarer wird dabei, dass wir Menschen gerade noch über elementare Dinge im Hier und Jetzt gemeinsam verfügen können: Die Welt der anderen bleibt für uns unerfahrbar.

Warum ist das von Bedeutung? Die Unmöglichkeit die Welten anderer zu erfahren, und sei es auch nur die eines einzigen Individuums, hat direkte Auswirkungen auf das, was wir als Wirklichkeit oder Realität bezeichnen. Wenn es irgendeine objektive Realität gibt – und nicht wenige moderne Physiker und Philosophen bestreiten dies inzwischen – dann ist sie für uns nicht erfahrbar.

Damit scheint es einfacher, sich auf die Existenz einer kontinuierlich gemeinsam erzeugten Menschen-Realität zurückzuziehen, einer im Fluss befindlichen Konvention, die sich unablässig ziellos ändert und zu jedem Zeitpunkt eine andere ist und beständig andere Wahrheiten produziert.

Was interessiert an dieser Zustandsbeschreibung den Dichter oder Philosophen?

Wir, ebenso wie unsere Vorgänger aus der Menschenfamilie, geben und gaben im Verlaufe der Zeit und der Geschichte unseren Wirklichkeiten und Wahrheiten durch Kommunikation auf vielen verschiedenen Ebenen und vorrangig durch Sprache wissbare Gestalt.

Daraus ergibt sich die Möglichkeit auf allen diesen Ebenen der Kommunikation. Der Weitergabe von Wissen, der künstlerischen Äußerung in allen ihren Formen  Archäologie zu betreiben, da nichts existiert, dass nicht eine Geschichte hat, sei es als Ganzes oder als Geschichte seiner Teile usw.

Mit diesem Wissen hat der Dichter ein mächtiges Werkzeug: Dichtung wird zu einem Arsenal aus Sätzen, Worten, Silben abgeschossen auf die Barrieren des Unbekannten und Nicht-Wissbaren, während sie sich gleichzeitig unabwendbar und unwiderruflich speist…

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