Das Bild ist die Titelseite eines Buches, an dem ich arbeite, ein Projekt, das mir schon viele Jahre durch den Kopf geht. Meine Gedanken dazu sind noch nicht recht ausdrückbar an vielen Stellen und man verzeihe mir daher mancherlei fehlende Präzision. Es geht um Poesie, Lyrik, Gedichte, poetische Äußerungen (die nicht verbal sein müssen) im Allgemeinen: Was ist das? und warum sind sie?

Wenn sie poetisch sind, dann sind sie Nicht-Orte, Utopien.

Dichtung (hier: die Menge poetischer Texte oder Elemente daraus) hat kein Ziel, sie dient keinem Zweck, hat keine Richtung. Sie ist vielmehr ein Tanz durch den Gestaltraum, den Raum, der gebildet wird durch die Menge möglicher Formen von Dichtung. Keine Leiter nach oben, kein Fortschritt, sondern lediglich ein Fortschreiten. Ähnliche Formulierungen lassen sich ohne große Mühe auch in der Evolutionsbiologie finden (Gould, Goodwin, Eldridge). Wo ist der Zusammenhang?

Poetische Texte (oder jede andere poetische Äußerung)sind wie Stelen im unendlichen, poetischen Feld, manchmal wie eine einzelne Tänzerin, manchmal ein Ensemble von hoher Dichte oder Synchronizität, manchmal wie eine formlose Masse, deren einzelne Elemente kaum noch sichtbar sind…

Zum Verständnis der Morphogenese der poetischen Elemente wird eine poetische Feldtheorie gebraucht, die sich mit den Beziehungen der Prozesse und Strukturen der poetischen Elemente beschäftigt und wie diese sich in Zeit und Raum entwickelt haben und verändern.

Und dann ist da der Chor der antiken griechischen Tragödien. Mit ihm erscheint die Reflexion als dramatisches Element auf der Bühne. Es ist der Chor, der der Tragödie ein Bewußtsein ihrer selbst verleiht. Der Chor ist die gewachsene Versinnbildlichung des reflexiven Bewußtseins  Er handelt nicht, sondern spiegelt die jeweilige poetische Wirklichkeit. Und von Tragödie zu Tragödie kann dieser Spiegel seine Beschaffenheit und Eigenschaften ändern.

Dichtung und Utopie        (Poetik, Poetry, Poesie)

Geschichte ist ein Prozess, in dem keine Vorstellung oder Wahrnehmung der Wirklichkeit endgültig ist.

Dichtung ist Teil und Antrieb der fortschreitenden Metamorphose der Wirklichkeit.

Dichtung lebt in einer dauernden Utopie ihrer selbst.

Utopien werden in einem ständigen Prozess aus der Literatur geboren: Sie ist die Wortmaschine, die das Utopische in ständig neuer Gestalt in die Welt setzt.

Utopien sind keine Obkjekte der Realität; sie sind unfertig und ohne endgültige Gestalt. Sie gelangen als Konstrukte der Vorstellung in das allgemeine Denken, wo sie von zahllosen unterschiedlichen Assoziationen und Interpretationen entstanden aus individueller Wahrnehmung bearbeitet werden. Sie können immer nur Nicht-Orte sein.

Diese Nicht-Orte sind im besten Falle Traumbilder unser Wünsche und Sehnsüchte, im schlimmsten Falle Anlaß zur Konstruktion einer „gesellschaftlichen“ Utopie, Aufruf zu „revolutionärem“ Handeln einiger an die übrigen, mit der Maßgabe, statt der eigenen Ziele und Wünsche die der anderen zu verfolgen. Nicht umsonst schlagen regelmäßig alle Versuche, politische Utopien zu Wirklichkeit zu machen, auf grandiose Weise fehl.

Selbst wenn „wir“ ein wie auch immer geartetes Utopia errichten könnten, wie könnte es auch nur für einen einzigen Augenblick Utopia bleiben, Ziel aller Sehnsucht und Hoffnung, wenn es nichts mehr gibt, das man ersehnen oder erhoffen kann – denn das gerade ist ja die Definition der Utopie?

Dichtung und Unschärfe

Je tiefer wir in die Welt eindringen, ins Kleine und Kleinste, desto mehr hört  „die Welt“ auf zu existieren, die Welt nämlich, in der wir uns verständigen können, die aus dem kommunikativen Prozess miteinander und der uns umgebenden Umwelt entsteht.

„Wir müssen uns darüber klar sein, dass Sprache, wenn es um Atome geht, nur wie in der Dichtung verwendet werden kann. Auch der Dichter ist nicht so sehr mit der Beschreibung von Fakten befasst, als damit, Bilder zu erzeugen und geistige Verbindungen zu knüpfen.“ (Niels Bohr)*

* zitiert in Übersetzung nach Wheeler, John Archibald: Information, Physics, Quantum: The Search for Links, in Proceedings III International Symposium on Foundations of Quantum Mechanics. Tokyo: pp. 354-358 (1989)

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