Es war lange Zeit still gewesen um K. Zunächst hatte es geheißen, er sei vor einer Weile verschieden und in aller Stille beigesetzt worden. Dann wieder, Herr K. habe das Land verlassen, um anderswo sein Glück zu suchen.  In Anbetracht der veränderten politischen Lage, so konnte man von vielen hören, die ihn gekannt hatten, sei es auch sinnvoll, dass er nun schweige, dass er, und sei es nur aus Anstand, überhaupt zu schweigen hätte.

Herr K. aber, durchaus lebendig, hatte nun zwar geschwiegen, und also wenn man will, einfach und ohne weitere öffentliche Begründung so etwas wie ein Grundrecht auf politisches Schweigen  wahrgenommen, so empfand er es jedenfalls und man konnte ihm kaum widersprechen, so lange niemand wusste, dass er schwieg,  wobei dieses sein Schweigen  bis dahin aber wohl eher deshalb zustande gekommen war, weil er auf den guten Zustand des Gemeinwesens vertraute und sich in diesem guten Glauben anderen Interessen zugewandt hatte.

Im Frieden  mit sich selbst und ohne jede Vorwarnung fügte es sich eines Tages, dass er, nachdem er wieder einmal seiner staatsbürgerlichen Pflicht als Wähler nachgegangen war, sich in einem Café mit einem Bekannten über das Wahlergebnis unterhielt und dieser ihn fragte, was er denn gewählt habe.

Herr K. sah diesen Bekannten an und schwieg.

„Doch wohl nicht…?“ sagte der Bekannte.

Herr K. schwieg weiter.

„Ich kann Ihnen sagen“, sagte der Bekannte, „was ich gewählt habe. Ich habe nichts zu verheimlichen. In diesem Land kann nämlich jeder seine Meinung sagen. Und natürlich auch, welche Partei er gewählt hat.“

Herr K. schwieg immer noch.

„Ich kann es nicht glauben“, sagte der Bekannte in leicht erhöhter Tonlage. „Ich muss ja fast schon annehmen, dass Sie… aber nein, das kann doch einfach nicht sein. Nicht Sie, das würden Sie doch nicht tun. Sie sind doch ein anständiger Mensch. Sind Sie ein anständiger Mensch? Nun sagen Sie doch etwas. Sagen Sie doch, wen Sie gewählt haben. Sonst muss ich wirklich glauben, dass Sie…Haben Sie…?“

Herr K. sah ihn an und schwieg. Wenn ich jetzt antworte, dachte Herr K., werden diesen Fragen weitere Fragen folgen. Es scheint  nur eine Antwort zu geben, die mir erlaubt ist, wenn ich in Ruhe gelassen werden möchte. Vielleicht so etwas wie: Wofür halten Sie mich? Was sollen diese Unterstellungen?

Doch dafür war es jetzt wohl schon zu spät, nachdem er sich bereits durch sein beharrliches Schweigen verdächtig gemacht hatte.

„Also doch.“ Der Bekannte erhob sich und sah sich in dem Café um. In seinem Gesicht mischten sich Wut, Enttäuschung und Abscheu. Dann winkte er einen Kellner heran.

„Zahlen.“

„War etwas nicht in Ordnung mit Ihrem Latte?“ fragte der Kellner.

„Wissen Sie eigentlich“, sagte der Bekannte, wobei er sich ein wenig in die Brust warf und auch insgesamt mit einem Mal aufrechter zu stehen schien. „Wissen Sie eigentlich, was für Gäste Sie hier bedienen?“

Erneut sah er sich um in dem Café. Dann sagte er laut und mit erhobener Stimme, nein, eigentlich schrie er schon fast, während er mit dem Finger auf Herrn K. wies: „Dieser Mensch dort, Sie werden nicht glauben, welche Partei er letzten Sonntag gewählt hat. Ja, richtig, Sie können es sich denken. Schauen Sie sich das Gesicht an, den verstockten Ausdruck. Wir alle sitzen hier ahnungslos in diesem Café zusammen mit einer solch abscheulichen Gestalt, während jedermann, der uns hier sieht, uns jetzt mit diesem Abschaum in Verbindung bringen wird.

Man wird sagen, man wird flüstern auf der Straße oder im Büro, sieh nur, der da verkehrt auch in dem Café, in dem sich diese…Und warum? Weil Typen wie dieser,“  und jetzt zeigt er auf den Kellner, „es Unmenschen wie diesem erlauben, sich in unserer Mitte unerkannt und anonym zu tummeln und ihren dunklen Absichten nachzugehen.“

Der Kellner war bei den Worten des Bekannten zusammengezuckt. Dann wandte er sich zu Herrn K. und sagte laut und fest, als wolle er auch wirklich sicher sein, dass die anderen Gäste ihn hören konnten:

„Verlassen Sie das Lokal, Sie sind hier nicht willkommen. Lassen Sie sich hier nie wieder blicken. Leute wie Sie wollen wir hier nicht.“

Herr K. sah ihn einen Augenblick schweigend an. Dann stand er auf, legte einen Geldschein auf den Tisch und verließ das Café.

Vielleicht hätte ich doch etwas sagen sollen, dachte er bei sich, als er langsam und in sich gekehrt nach Hause ging.

 

***

Die Zeit verging. Natürlich. Die Wahlen waren bald vergessen und im Großen und Ganzen schien es, als sei nichts weiter geschehen, als habe sich nicht wirklich etwas verändert, weil sich ja doch niemals etwas wirklich verändern lässt, wenn es sich nicht von selbst verändern will. Und natürlich schien es, als ob es nicht länger irgendjemanden kümmerte,  was oder wen Herr K. mutmaßlich gewählt hatte.

Herr K. ging also längst wieder seiner gewohnten Wege, schwieg hier ein bisschen, nickte dort ein wenig, zumeist aus Höflichkeit oder um nicht als störendes  Element wahrgenommen zu werden, denn im Grunde interessierten ihn die meisten Gespräche nicht. Es geschah einfach zu selten, dass jemand etwas Neues oder Originelles beizusteuern hatte.

Im Grunde schienen alle seine Bekannten in den meisten Angelegenheiten, die Im Laufe der Zeit als außerordentlich und wichtig in der Öffentlichkeit in Umlauf gebracht wurden, einer Meinung zu sein. Manche vielleicht noch mehr als andere, wenn man berücksichtigte, wie sie ihre Übereinstimmung und Zustimmung immer wieder betonten und ins richtige Licht zu setzen suchten. Dies fiel ihm zwar auf, doch irgendwelche Schlüsse, zog er daraus nicht.

Stattdessen war er zufrieden damit, dass die Welt in summa so blieb, wie er sie kannte und die wenigen Veränderungen, die er wahrnahm, ihn nicht oder nur unwesentlich betrafen.

Dieses vielleicht ein wenig oberflächliche Gefühl der Zufriedenheit  dauerte bis zu jenem Tage, als er zufällig auf der Straße  jenen alten Bekannten wieder traf, der einige Zeit zuvor jenes peinlich-absurde Ausfragespiel mit ihm angestellt hatte, was man recht eigentlich, so empfand er es im Nachhinein, wenn er denn überhaupt daran dachte, auch als Provokation oder Verhör hätte wahrnehmen können.

„Wissen Sie eigentlich“, sagte der Bekannte, der auch einen Namen hatte, den Herr K. aber immer wieder vergaß. „Wissen Sie eigentlich“, sagte er, als erwähne er nur eine Nebensächlichkeit, allerdings mit einem gewissen stillen Vorwurf verbunden, „dass dieses Café, in dem wir uns vor einiger Zeit unterhalten haben, dass dieses Café, in dem Sie Ihren unrühmlichen Auftritt hatten, schließen musste? Nach Ihrem Auftritt blieben die Gäste fort.“

Herr K. sah ihn fragend an.

„Sie können sich den Grund dafür vorstellen, nehme ich an. Sie und Ihresgleichen schrecken vor nichts zurück.“

Er lächelte herablassend. „Wir können das nicht tolerieren.“

Herr K. schwieg. Inzwischen kam ihm sein Schweigen lauter vor als alles, was er hätte sagen können.  Er wandte sich zum Gehen.

„Hören Sie?“ schrie der Bekannte ihm nach und seine Stimme überschlug sich beinahe, als er fortsetzte: “Unmenschen wie Sie werden wir niemals tolerieren! Niemals! Da können Sie so viel schweigen, wie sie wollen.“

Herr K. hörte längst nicht mehr zu, da er ohnehin nicht so genau verstand, weshalb sein Bekannter sich solchermaßen echauffierte. In Gedanken  war er schon mit seinem Abendessen beschäftigt.

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